Seit eineinhalb Jahren erhöhen die wichtigen Notenbanken Federal Reserve (Fed) und Europäische Zentralbank (EZB) die Leitzinsen. Dennoch stagniert die Inflation auf hohem Niveau. Und obwohl die Konjunkturprognosen seit Längerem eingetrübt sind, zeigt sich die US-Wirtschaft anhaltend robust. Im Gegensatz dazu hatten Anfang des Jahres fast alle Experten und Analysten eine Rezession vorausgesagt – die allerdings bis jetzt nicht eingetreten ist.
Warum also geht es der Wirtschaft immer noch gut? Die jüngste Zinsstraffungsphase der Fed war die aggressivste von sieben Straffungsphasen seit Anfang der 1980er-Jahre. Der Leitzins wurde um mehr als 500 Basispunkte angehoben. Ähnlich scharf ging die EZB in Europa vor: Sie hob die Zinsen um 450 Basispunkte an. Zentralbanken erhöhen die Zinssätze, um die Wirtschaft abzukühlen und den Inflationsdruck zu verringern. Die Effekte treten jedoch erst mit einiger Verzögerung ein. Schon 1960 vertrat der renommierte US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman diese Ansicht. Und auch aktuelle Studien kommen zu diesem Schluss: Eine Auswertung zeigt, dass der maximale Effekt auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei einer Erhöhung des geldpolitischen Zinssatzes um einen Prozentpunkt nach 10 bis 24 Monaten eintritt. Der Spitzeneffekt ist ein Rückgang des realen BIP zwischen 0,5 % und 2 %, im Durchschnitt etwa 1,5 %.
Und dennoch: Zwar sank das Wirtschaftswachstum im Euroraum Ende letzten Jahres vorübergehend, aber es kehrte schnell wieder in den positiven Bereich zurück. Das Wachstum in den USA war durchweg positiv. Eine wichtige Erklärung für das Ausbleiben der erwarteten negativen Auswirkungen auf die Wirtschaftstätigkeit liegt möglicherweise in der erhöhten Sparquote während der Coronapandemie, als die Menschen viel weniger Geld ausgeben konnten, als sie es üblicherweise getan hätten. In den USA lag die Sparquote im Zeitraum von 2020 bis 2021 im Durchschnitt bei 14 %, was dem Doppelten der durchschnittlichen Sparquote im Jahrzehnt von 2010 bis 2020 entspricht. Verfügen die Menschen über hohe Ersparnisse, können sie der Belastung durch eine hohe Inflation und steigende Zinsen standhalten. Der Konsum bleibt also hoch und unterstützt so die Wirtschaftstätigkeit.
Aufgrund der Pandemie sparten die Menschen überall auf der Welt. Eine Fed-Studie hat die überschüssigen Ersparnisse in verschiedenen Volkswirtschaften berechnet: Als die Zentralbanken 2022 begannen, die Zinssätze anzuheben, verfügten die Menschen über zusätzliche Reserven in Höhe von etwa 5 % bis 7 % des BIP. Sie konnten sich also die Mehrkosten, die mit der hohen Inflation und den hohen Zinssätzen einhergingen, leisten. Ergo traten die negativen Auswirkungen bisher nicht ein, die andernfalls zum Tragen gekommen wären. Weitere Gründe, die die Wirtschaftstätigkeit bislang stützen, sind der in den meisten OECD-Ländern im letzten Jahrzehnt zurückgegangene Anteil variabler Hypothekenzinsen sowie der bisher starke Arbeitsmarkt. In den USA lag die Arbeitslosigkeit im März 2022, als die Fed mit der Zinserhöhung begann, bei 3,6 % und ist heute quasi gleich hoch. In Europa ist die Arbeitslosigkeit gesunken.
Allerdings zeigt die Studie auch, dass die während der Pandemie angesammelten überschüssigen Ersparnisse mittlerweile aufgebraucht sind. Und das bedeutet, dass die höheren Zinskosten nun beginnen, die Konsummöglichkeiten der Menschen zu beeinträchtigen. Da die Kerninflation in den USA und in Europa stagniert, gehen wir davon aus, dass die Zinsen weiterhin auf dem aktuell hohen Niveau bleiben werden. Dennoch ist der Aufwärtstrend am Aktienmarkt seit Herbst 2022 unserer Meinung nach grundsätzlich intakt und verliert lediglich etwas an Momentum.